Donnerstag, 2. Mai 2024

Warum weinen wir eigentlich nicht in der Kirche?

Biblische Frau am Weinen
Weinen gehört zu den normalen Gefühlsäusserungen. Doch abgesehen von Kindern weinen Menschen nur selten in der Öffentlichkeit. Dabei könnte Kirche einer der Orte sein, wo man seine Gefühle nicht verdrängen muss, sondern ausdrücken darf.

Die britische Autorin Jeannie Kendall machte sich auf die Suche, wo in der Bibel überall Tränen vorkommen – und sie wurde mehr als fündig. Ihren Ergebnissen stellte sie Überlegungen an die Seite, wie sich das auf unser Christsein heute auswirkt. «Held in your bottle» (In deiner Flasche aufgefangen) heisst ihr Buch zum Thema. Im Filmklassiker «Quo vadis» lässt sich König Nero, gespielt von Peter Ustinov, in für ihn emotionalen Momenten seine «Tränenvase» reichen, um seine Trauer aufzubewahren. Was im Film albern wirkt, weil es so wirken soll, ist bei Kendall das Würdigen wichtiger Gefühle, denn Tränen fliessen oft und reichlich in der Bibel. Dabei sind es längst nicht nur die Frauen, die weinen. Im 1. Buch Mose hält Josef den Rekord fürs häufigste Weinen: Siebenmal wird davon berichtet. Später geht Jeremia als «Prophet der Tränen» in die Geschichte ein und selbst Jesus weint öffentlich.

Tränen des Bedauerns

Kendall entdeckt in der Bibel elf verschiedene Arten von Tränen: Tränen der Freude, des Abschieds, des Zorns, der Freundschaft oder auch solche in stressigen Situationen. Die Tränen des Bedauerns nimmt die Autorin zum Beispiel anhand der Geschichte von Jakob und Esau unter die Lupe. Esau kehrt eines Tages hungrig von der Jagd zurück und sieht, dass sein jüngerer Zwillingsbruder Jakob gerade einen köstlichen Linseneintopf zubereitet. Er stirbt fast vor Hunger und bittet Jakob um einen Teller davon. Der fordert dafür einen besonderen Preis: «Verkaufe mir heute dein Erstgeburtsrecht!» Esau meint nur: «Siehe, ich muss doch sterben; was soll mir das Erstgeburtsrecht?» und gibt es an seinen jüngeren Bruder ab (siehe 1. Mose, Kapitel 25, Vers 31-32). Zwei Kapitel will er zwar trotzdem den Erstgeburtssegen seines Vaters erhalten, doch Jakob kommt ihm zuvor. Erst jetzt wird Esau bewusst, dass er tatsächlich als Zweitgeborener eingestuft wird – und er bereut es unter Tränen. «Hast du denn nur einen Segen, mein Vater? Segne doch auch mich, mein Vater! Und Esau erhob seine Stimme und weinte.» (1. Mose, Kapitel 27, Vers 38). Absurd? Vielleicht, aber Kendall zeigt, dass wir alle dazu neigen, für einen Moment des Vergnügens Dinge zu tun, die wir später bereuen. Und sie legt dar, dass wir kurzfristig gesehen in der Regel Dinge bereuen, die wir getan haben, langfristig bedauern wir dagegen eher das, was wir nicht getan haben, wie etwa verpasste Gelegenheiten.

Weinen oder nicht?

Es ist offensichtlich, dass wir im Westen in der Regel nicht so gefühlsorientiert sind wie die Menschen im Nahen Osten, die uns in der Bibel begegnen. Trotzdem bleibt die Frage: Welche Rolle spielen Trauer und Tränen bei uns? Da stellt sich schnell heraus, dass sie nur wenig Raum haben. Selbst bei Beerdigungen, wo das Bedürfnis, zu weinen und zu klagen, völlig akzeptiert wird, gehen viele sehr bald wieder zur «Feier des Lebens» über. Schnell heisst es: «Lasst uns weitergehen …» und wochenlange Trauer wird häufig mit einem «Irgendwann ist es aber auch mal genug!» kommentiert. Tatsächlich ist es in unserer Gesellschaft oft besser, seine Tränen nicht öffentlich zu zeigen: Das wirkt nicht professionell oder stark, stattdessen sieht es unvernünftig, emotional und schwach aus. Leider gilt eine ähnliche Wahrnehmung in Kirchen und Gemeinden. In sehr gefühlvollen charismatischen Gottesdiensten darf schon mal geweint werden, genauso an der Bussbank der Heilsarmee, aber wenn eine verantwortliche Person in der Gemeinde regelmässig weint, dann steht die Frage schnell im Raum, ob sie tatsächlich für ihre Aufgabe geeignet oder doch eher überfordert ist.

Auch Jesus weinte

Jeannie Kendall stellt interessante Fragen rund ums Weinen: Gab es Tränen schon immer oder kamen sie erst durch den Sündenfall in die Welt? Kann es im Himmel noch Tränen geben, wenn am Ende der Zeit «Gott … alle Tränen von ihren Augen [abwischen wird]» (Offenbarung, Kapitel 21, Vers 4 )? Weint Gott? Für Jesus gehören Tränen auf jeden Fall dazu. Er weint über die Menschen in Jerusalem (Lukas, Kapitel 19, Vers 41), im Garten von Gethsemane (Matthäus, Kapitel 26, Vers 38) und um seinen Freund Lazarus, was mit dem kürzesten Vers der Bibel beschrieben wird: «Jesus weinte.» (Johannes, Kapitel 11, Vers 35).

Dabei klingt unausgesprochen, aber auch konkret benannt die Frage durch: Wenn es für Jesus in Ordnung war zu weinen, ist es das dann nicht auch für uns? Sollte nicht gerade seine Kirche Raum dafür bieten? Dabei geht es nicht darum, hier eine depressive Grundstimmung anzuschieben, sondern viel eher starke Gefühle jeder Art in der Gemeinde zuzulassen und zu erleben: Weinen genauso wie Lachen. Und herauszukommen aus einem Christsein, in dem Emotionen fast keinen Raum haben.

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Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Premier Christianity

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